Erlebt und niedergeschrieben von Carola Winter

Gartenpflege

Gerade habe ich Sybille am Telefon. Sie bittet mich, doch mal nach ihrem Herzensmann Dieter zu schauen, dem „HM“, wie es in unserer Branche heißt. „Können Sie mir sagen, wie er über mich fühlt und denkt“, fragt sie mit sehnsuchtsvoller Stimme. – Klar, das ist mein Job, so wie ihn viele sehen, die eine Lebensberaterin anrufen.

Ich bitte Sybille, sich folgendes vorzustellen: Dieter stehe vor ihr und reiche ihr die Hand. Dabei soll sie ihm tief in die Augen schauen. Kein Problem für Sybille, und auf diese Weise erhalte ich guten energetischen Zugang zu den beiden.

Ich wähle die Partnerschaftslegung, bei der zwei Menschen sich im Kartenbild gegenüberstehen. Nun setze ihr auseinander, was Dieter denkt und fühlt, wie er im Moment halt so „drauf“ ist. In aller Ausführlichkeit erläutere ich seinen Seinszustand – Sybille saugt jedes meiner Worte auf wie ein Schwamm. Sie fragt nach Einzelheiten, erzählt von ihren gemeinsamen Begegnungen und fragt und fragt. Ich höre zu, schildere ihr jedes Detail, das ich über ihn sehe. Selbst als ich mich teilweise schon wiederhole, sind meine Ausführungen für sie wie Regen auf verdorrtem Land.

Nachdem ich meinen Job in aller Gründlichkeit erledigt habe, lenke ich das Gespräch behutsam in eine andere Richtung: „Sybille, wie geht es Ihnen denn eigentlich selber?“ – „Schlecht“, sagt sie. „Sehr schlecht, denn dieser Dieter meldet sich ja nicht!“

Aha – da, wo der Schmerz sitzt, soll Sybille also etwas lernen. Es geht ums Grundsätzliche in zwischenmenschlichen Beziehungen – und wie immer greife ich hier gerne zu bildhaften Vergleichen. „Sybille“, sage ich, „stellen Sie sich Ihre Beziehung zu Dieter wie einen kreisrunden Garten vor. Mitten hindurch verläuft eine hohe Mauer. Eine Hälfte davon gehört Ihnen, in der anderen lebt Dieter. Die beiden Teile des Gartens symbolisieren Ihr jeweiliges Leben.“

Sybille hört gespannt zu, und ich fahre fort: „Einer von Ihnen, meist Sie als der weibliche Teil, ist nun voller Sehnsucht. Sie möchten unbedingt wissen, was Dieter in seiner Hälfte des Gartens so tut. Tag und Nacht kreisen Ihre Gedanken um ihn – und was Sie sich nicht alles vorstellen!“

Noch hat Sybille keine Ahnung, in welche Richtung es geht. Also führe ich weiter aus: „Sie nehmen sich schließlich eine lange Leiter, stellen sie an die Mauer und spähen hinüber. Mit anderen Worten: Sie rufen eine Kartenlegerin an. Die soll für Sie  jetzt endlich einen Blick ins Leben des Geliebten tun. Alles wollen Sie über ihn und seinen Gartenhälfte wissen. Sie studieren jede Kleinigkeit, die Ihnen geschildert wird. So stehen Sie nun auf der Leiter und schauen und schauen. Dabei übersehen Sie aber vollkommen, was hinter Ihnen in Ihrer eigenen Hälfte passiert. Ihr eigener Garten scheint nicht nur ziemlich unwichtig geworden zu sein, er wirkt ohne Dieters Hälfte geradezu mangelhaft, leer und unvollständig! Offenbar sind Dieter und sein Garten genau das lang Vermisste, mit dem die eigene Hälfte endlich zum Ganzen wird.“

Nicht nur Sybille unterliegt diesem grandiosen Irrtum, die eigene Ganzheit sei ausschließlich durch den Partner zu erlangen. Dabei ist es genau andersherum: Jeder Mensch hat für sich die Aufgabe, immer wieder neu zur eigenen Vollkommenheit zu finden. Die Verantwortung für dieses ständige Streben kann und darf man nicht an einen Partner delegieren. Konkret heißt das: Wenn ich mich als komplettes Wesen begreife, ist all das, was mir mein Partner bringt, ein zusätzliches Geschenk.

Demzufolge sieht eine gesunde Partnerschaft so aus: Zwei Menschen gehen frei und ungezwungen aufeinander zu, jeder von beiden bringt sich freiwillig in die Beziehung ein. Doch beide haben auch das Recht, sich jederzeit genauso frei wieder voneinander fortzubewegen – stets im Bewusstsein, dass wir alle selbst die Verantwortung für uns und unser Wohlergehen tragen, und nicht unser Partner.

Dies ist für mich die wichtigste Voraussetzung für eine Partnerschaft der Neuen Zeit. Sybille ist sehr nachdenklich geworden, und ich spüre, dass unser Gespräch ihr den unverzichtbaren Blick zu sich selbst geöffnet hat – dem wichtigsten Menschen in ihrem Leben.

©carola winter 2017