Erlebt und niedergeschrieben von Carola Winter

Warten auf den Herzensmann.

Dienstagmorgen, 10:15 Uhr, am Telefon eine verzweifelte Frau mit einer verzweifelten Frage: „Am 23. Mai 2004 bin ich auf einer Party meiner Freundin Walburga einem Mann begegnet. Wir reichten uns die Hand und schauten uns tief in die Augen. Da hat es klick gemacht. Seit dieser Nacht geht er mir nicht mehr aus dem Kopf. Wie lange muss ich denn noch warten, bis er sich endlich bei mir meldet? Können Sie mal in Ihre Karten schauen?“

Ja, denke ich bei mir, das gleiche alte Thema. Wie oft bin ich schon gefragt worden... Ich stelle mich energetisch auf die Anruferin ein und mische meine Karten. Bereits das kleine Kartenblatt bestätigt mir deutlich, was ich im Inneren sowieso schon weiß: Die Verzweifelte wird wohl noch länger auf ihren „Herzensmann“ warten müssen. So grausam kann das Schicksal sein.

Nun bin ich gefragt. Einmal mehr muss ich auf dem Seil tanzen. Wie bringe ich es fertig, dieser Frau beizubringen, dass ihr ersehntes Glück nicht nur völlig illusionär ist, sondern dass sie, indem sie soviel Energie in die Erhaltung dieser Illusion steckt, sich jeder Chance beraubt, reales Glück mit einem anderen Mann zu finden.

Schmerzliche Erkenntnisprozesse stehen an. Erst einmal muss sie den physikalischen Grundsatz verstehen lernen, dass da, wo sich schon etwas befindet – nämlich die Illusion ihres Traumprinzen – nicht zugleich Platz für etwas anderes sein kann. Im Klartext: Sie tauscht beständig die Erwartung an eine Beziehung gegen die Möglichkeit, eine solche wirklich zu leben.

Wie ich das denn nur gemeint hätte: dass sie für ihr Martyrium selbst verantwortlich sei? Dieser Gedanken ist ihr in all den verstrichenen Jahren nie gekommen. Fassungslosigkeit am anderen Ende der Leitung.

Jetzt folgt der zweite Akt meines Seiltanzes: Vor mir steht die Aufgabe, die Anruferin aus ihrer passiven Haltung des gottergebenen Ausharrens herauszuholen, ohne sie zugleich völlig am Boden zu zerstören. Sie sollte also klar erkennen, dass weiteres Warten zu keiner Veränderung führt. Ich muss ihr deutlich machen, dass ein Mann, der sich wirklich für eine Frau interessiert, die Initiative spätestens Wochen, wenn nicht Tage nach dem Kennenlernen ergreift. Da er sich bei ihr aber nicht meldete, war der gefühlte Klick wohl leider einseitig.

Ich spüre deutlich, wie schmerzhaft diese Wahrheit für sie ist. Zugleich erkenne ich, dass da, wo bis zuletzt der Traummann in ihrem Herzen wohnte, bereits ein gewisser Freiraum entstanden ist. Hier könnte künftig jemand „einziehen“, der es ernst mit meiner Anruferin meint. Dazu ist es aber unabdingbar, künftig zwischen weiteren illusionären Herzensmännern und dem Partner unterscheiden zu können, der ganz real an ihrer Seite leben möchte.

Ich gebe ihr daher mit auf den Weg, sie möge sich in Partnerschaftangelegenheiten künftig strikt an das halten, was auf der sichtbaren Ebene passiert. Mit anderen Worten: Erst wenn sich ein Mann um eine Frau bemüht, sie anruft, einlädt, ihr Geschenke und Komplimente macht, kann sie davon ausgehen, dass bei ihm ein tieferes Interesse vorhanden ist.

Zu leicht verführt uns unser sehnsüchtiges Herz sonst dazu, aus einer harmlosen Einladung zum Kaffee gleich einen Heiratsantrag zu machen. Bleiben wir aber bei den Tatsachen, ersparen wir uns viele unnütze Verletzungen.

Als Beraterin weiß ich genau, dass ich meiner Anruferin in den letzten Minuten viel zugemutet habe. Ich habe sie mit einer radikal neuen Sichtweise konfrontiert, die ein weitreichendes Umdenken erfordert. Doch am Ende unseres Gespräches scheint es mir dennoch gelungen zu sein, sie auf einen neuen Weg gebracht zu haben. Sie bedankt sich, verspricht sich wieder zu melden, wir beenden das Gespräch.

Dienstagmorgen, 11:15 Uhr, wieder klingelt das Telefon.

©carola winter 2017