Erlebt und niedergeschrieben von Carola Winter

Die Geschichte von der Frau und dem Schubkarren

Es war einmal eine Frau, die sich sehr einsam fühlte. Ihr Name war Sabine. So gerne hätte sie einen Mann an ihrer Seite gehabt, eine starke Schulter, an die sie sich auch einmal anlehnen könnte. Sicher, über einen ganzen Zeitraum hinweg war sie damit einverstanden gewesen, solo und unabhängig zu sein. Nachdem sie mit ihrem letzten Partner schlechte Erfahrungen gemacht hatte, hatte sie sich lieber zurückgezogen. Sie glaubte, so würde sie künftigen Verletzungen entgehen. Doch langsam verblassten die negativen Erlebnisse, die Sehnsucht nach ein wenig Geborgenheit und Liebe wuchs und wurde immer größer. Sie hatte genug davon, ihr Leben allein zu verbringen.

Eines Tages beschließt sie nun, aktiv zu werden. Sie tritt aus ihrem Haus, geht zu ihrem Geräteschuppen und holt von dort eine Schubkarre. Diese Schubkarre fährt sie mitten auf die Straße vor ihr Haus. Sie ruft: „Ich heiße Sabine, bin eine sehr warmherzige und liebevolle Frau und möchte einen Partner, der genauso denkt wie ich!“ – Und schon springen aus den Büschen drei, vier nette Herren heraus. Sabine sucht sich einen heraus und lädt ihn – sein Name ist Peter – ein, mit ihr eine Beziehung zu beginnen.

Sabine stellt sich vor den Karren, schaut Peter tief in die Augen und sagt: „Lieber Peter, ich glaube, dass Du endlich der Richtige bist, auf den ich so lange gewartet habe.“ In ihrem Inneren fügt sie noch hinzu: ‚Damit Du siehst, was ich für eine wertvolle und nette Frau bin, schiebe ich Dich die ersten 10 Kilometer auf unserem gemeinsamen Beziehungsweg. Danach werden wir tauschen. Beziehung sieht ja so aus, dass man erst etwas leisten muss, bevor man etwas erwarten darf.’ Das hatte sie bereits in ihrer Kindheit gelernt: Auch in der Liebe muss man zuerst Vorschuss leisten, bevor sich die eigenen Erwartungen erfüllen können.

Peter besieht sich Sabine und den Karren genauer, nickt dann und setzt sich hinein. Sabine ist hoch motiviert. Sie freut sich so sehr über Peter und ihre neue gemeinsame Beziehung, dass es ihr leicht fällt, Peter zu schieben. Ab und zu dreht er sich ja auch zu ihr um, lächelt sie liebevoll an oder winkt ihr aufmunternd zu.

Doch nach den ersten Kilometern bereits merkt Sabine, wie schwer Peter tatsächlich ist. Ihr Lächeln, das sie ihm zurückgibt, wenn er sich ihr zuwendet, ist bald nicht mehr ganz so locker wie zu Beginn ihres gemeinsamen Weges.

Sabines Arme beginnen zu schmerzen. Sie sehnt sich nach dem Ende der 10 Kilometer und hat das Gefühl, Peter werde immer schwerer. Endlich, endlich ist das Ende der Strecke erreicht, und Sabine freut sich schon darauf, jetzt selbst im Schubkarren ausruhen zu dürfen. Vorsichtig setzt sie die Karre mit dem schweren Mann ab, und Peter wendet sich um. Strahlend lächelt Sabine ihn an und sagt zu ihm: „So, Peter, bis hierher habe ich dich gefahren, nun ist der Zeitpunkt gekommen, wo wir tauschen. Jetzt schiebst du mich, und ich darf mich in die Schubkarre setzen.“ Peter schaut verständnislos. „Wie tauschen, was meinst Du damit, Sabine? Warum willst Du plötzlich tauschen, bis jetzt läuft unsere Beziehung doch prima! Mir gefällt es ausgesprochen gut so, wie es ist. Warum sollen wir denn daran etwas ändern?“

Sabine ist erstaunt. Ganz zaghaft, denn sie will Peter ja nicht vor den Kopf stoßen, wendet sie ein: „Aber Peter, ich bin müde. Ich muss mich ausruhen, kann ich nicht auch mal in die Schubkarre? Die ganze Zeit habe ich Dich gefahren, und nun könnte ich doch auch mal...“ Aber Peter schüttelt nur den Kopf. Er versteht wirklich nicht, was Sabine auf einmal von ihm will... ‚Ok,’ denkt Sabine und gibt auf. ‚Da kann man wohl nichts machen.’ Sie lächelt noch, doch im Inneren grollt sie. Irgendwie fühlt sie sich hilflos, doch weiter auf ihren Wunsch bestehen möchte sie auch nicht, schließlich will sie Peter nicht verlieren. Also hebt sie die schwere Karre an und schiebt sie gottergeben weiter.

Während sie sich mühsam vorwärts bewegt, wächst in ihr der Widerstand und das Gefühl von Ungerechtigkeit. Nach weiteren drei Kilometern ist sie am Ende ihrer Kräfte. Und dem ihrer Geduld. Ihr Zorn ist mittlerweile viel größer als die Angst, Peter zu verlieren. ‚Jetzt ist das Maß voll,’ denkt sie, nimmt ihre ganze restliche Energie zusammen und kippt Peter mit Schwung in den Graben. Da liegt er nun und weiß gar nicht, wie ihm geschieht! ‚Ha’, denkt Sabine voller Genugtuung, ‚das geschieht ihm Recht!’

Ohne ein weiteres Wort oder einen Blick an diesen Mann zu verschwenden, greift sich Sabine ihre Schubkarre und stapft den Weg allein zurück nach Haus. Dort angekommen, reißt sie, immer noch beflügelt von ihrer mächtigen Wut, die Schuppentür auf und stellt ihre Karre dort ab. Dann sperrt sie die Haustür auf, geht hinein und schlägt sie mit einem demonstrativen Knall hinter sich zu. ‚Nie mehr,’ sagt sie sich voller Zorn ‚werde ich mich auf einen Mann einlassen!’ Sie beschließt, sich wieder zurückzuziehen, um so künftigen Verletzungen zu entgehen.

Doch im Lauf der Zeit verblassen selbst diese negativen Erfahrungen, und die bekannte Sehnsucht nach ein wenig Geborgenheit und Liebe wächst und wird immer größer. Sabine hat abermals genug davon, ihr Leben allein zu verbringen. Und alles fängt wieder von vorne an...

Kann es sein, liebe Leserin, dass Ihnen diese Geschichte bekannt vorkommt? Haben Sie sie womöglich schon am eigenen Leibe erlebt? Wenn ja, werden Sie sich bestimmt fragen, ob Sabine – oder Sie selbst – dazu verurteilt sind, ein solch teuflisches Beziehungsmuster bis in alle Ewigkeit so weiterzuleben? Mitnichten – denn für alles gibt es eine Lösung! Um die jedoch zu finden, müssen wir uns auf die Suche nach den tieferen Ursachen machen. Merke: Was immer uns unbewusst antreibt, hat Macht über uns. Machen wir es uns aber bewusst, verliert es diese, und die Lösung ist nahe!

Endet Sabines Geschichte mit der Schubkarre also an dieser Stelle? Ja und nein... Sie endet dann, wenn Sabine weiterhin an ihrem bereits bekannten Verhalten festhält. In diesem Fall bleibt sie entweder allein, oder sie wird sich eine Enttäuschung nach der anderen in ihr Leben bitten. Sie wird also immer wieder an „den Falschen“ geraten...

Lieber nicht! Lassen wir ihre Geschichte hier also noch nicht enden. Sabine hat sich nämlich entwickelt. Zu Beginn ihrer nächsten Beziehung verhält sie sich ganz anders: Zwar schiebt sie ihre Schubkarre erneut auf die Straße vor ihrem Haus, dann aber klettert sie selbst hinein. Sie ruft mit lauter Stimme: „Ich heiße Sabine. Ich bin eine Königin und suche einen König, mit dem ich eine ebenbürtige Beziehung führen möchte. Ich bin es wert, um meiner selbst geliebt zu werden.“ Schon springen aus den Büschen drei, vier nette Herren heraus. Als sie Sabines Worte hören, bekommen zwei von ihnen Angst und laufen davon. Diese Sabine scheint eine ziemlich selbstsichere Frau zu sein!

Der dritte aber fragt: „Du möchtest also, dass ich Dich schiebe?“ – Sabine nickt. – „Was bekomme ich dafür?“ – Sabine antwortet: „Ich handele nicht, eine Beziehung ist kein Geschäft.“ – Da dreht sich der Dritte ebenfalls um und geht seiner Wege.

Ein Mann jedoch bleibt stehen und interessiert sich für Sabine. Beide schauen sich in die Augen, und er spricht sie an: „Ich heiße Martin, bin ein patenter, sympathischer Mann und möchte eine Partnerin, die auch innerhalb einer Partnerschaft Verantwortung für sich übernimmt. Ich würde Dich schon gern ein Stück fahren.“ – Sabine ist einverstanden. Während der Fahrt spürt sie genau hin, ob Martins Fahrweise und die Richtung, die er einschlägt, ihrem Empfinden entsprechen. Ist dies einmal nicht der Fall, äußert sie sich klar, ohne dabei aber den Fehler zu begehen, seine Verantwortung an sich zu reißen.

Mit anderen Worten: Sabine respektiert zwei essentielle Ebenen in ihrer Beziehung. Martin trägt die Verantwortung für sich und sein eigenes Tun – sie nimmt sich die Freiheit, jederzeit zu entscheiden, inwieweit sie diese, neben der Verantwortung für sich selbst, mittragen möchte. So gibt es also zwei gleichberechtigte Wahrheiten in dieser Beziehung, und jeder äußert sich dem Anderen gegenüber ohne die Angst, den Anderen durch ein ehrliches Wort zu verlieren.

So fahren die beiden Glücklichen in den Sonnenuntergang. Er schiebt, sie schimpft und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.

©carola winter 2017