Erlebt und niedergeschrieben von Carola Winter

Lebenshilfe - in Vanille, Erdbeer oder Schokolade?

Adele Jacob ist unsicher: „Frau Winter, jetzt habe ich schon so viele Berater angerufen. Alle legen sie mir am Telefon die Karten, aber jede sagt mir dann was anderes. Wie kann das sein? Macht denn diese ganze Kartenlegerei überhaupt Sinn?“

Eine interessante Frage... Doch bevor ich ihr überhaupt antworten kann, sprudelt es aus Frau Jacob hervor: „Eine Ihrer Kolleginnen hat gesagt, dass ich den Herbert glatt vergessen kann. Wir werden nie richtig zusammenfinden, und von seiner Frau wird er sich auch nicht trennen! Das wollte ich mir dann bestätigen lassen und rief gleich noch eine weitere Kartenlegerin an. Von der hörte ich aber, dass der Herbert sich doch für mich entscheidet, und das würde auch gar nicht mehr lange dauern. – Und jetzt sagen Sie mir, Frau Winter, dass ich mit Herbert zwar eine schöne Affäre haben kann, aber seine Frau wird er wohl trotzdem nicht verlassen. Glauben Sie mir, jetzt bin ich ganz verwirrt!“

Ihre Atempause nutze ich, um mich wieder ins Gespräch einzuschalten. „Frau Jacob“, sage ich mit der ganzen Souveränität einer erfahrenen Lebensberaterin, „es ist doch im Grunde ganz einfach: Jeder Ihrer Gesprächspartner, das heißt, auch jede der befragten Expertinnen, lässt sich schwerpunktmäßig ja nur auf einen Aspekt Ihrer Frage ein. Die Karten sind nicht mehr als ein Spiegel, der je nach Stellung oder Neigung etwas Unterschiedliches zeigt.“

Mit anderen Worten: Empfängt der Kartenleger vom Frager vordringlich eine Schwingung von Zweifel und Angst, wird er wohl eher kritische Karten ziehen, und seine Beratung bekommt einen negativen Tenor.

Andere Experten ihres Fachs fangen in erster Linie die Hoffnungen des Anrufers auf, und entsprechend fallen die Karten so, dass sie sich deutlich positiver interpretieren lassen. Verhält sich der Frager jedoch offen und frei von übertriebenen Emotionen, so hat ein weiterer Kartenleger die Chance, ein einigermaßen unverfälschtes Bild der Situation zu erhalten. Nur so, unbeeinflusst vom hektischen Störfeuer der Gefühle, ist es überhaupt möglich, einen relativ unverklärten Blick auf so etwas wie „Zukunft“ zu werfen. Diese, wir wissen es alle, ändert sich mit jedem Atemzug, konstituiert sich neu mit jedem neuen Gedanken.

Was folgt daraus? Die für viele vielleicht bittere Erkenntnis, dass Kartenlegen nicht wirklich dazu geeignet ist, Zukünftiges vorherzusagen. Wäre es anders, säßen meine verehrten Kolleginnen und ich längst alle mit langstieligen Gläsern an den Swimmingpools exklusiver Hotels auf den Bahamas, weil wir ja dann die Lottozahlen legen würden, statt stundenlang am Telefon zu sitzen.

„Liebe Adele“, sage ich, nun wieder ganz mütterlich-liebevolle Lebensberaterin. “Liebe Adele, also für mich ist das Kartenlegen etwas ganz anderes. Ich frage dabei von vorne herein nicht nach dem Kommenden, sondern eher nach Ihrem gegenwärtigen Gefühlszustand. Aus Ihren Gedanken und Gefühlen heraus nämlich kreieren Sie Ihre Zukunft. Wer dieses, ihr Innerstes entschlüsselt, ist am ehesten dazu in der Lage, die Menschen zurück in ihre Kraft zu bringen.

Was Ihren Herbert nun betrifft, warum genießen Sie nicht einfach den Status quo und lassen sich beschenken und verwöhnen? Leben Sie in der Gegenwart, statt daran zu leiden, dass Ihre Träume von der Zukunft sich womöglich nicht erfüllen könnten!“

Stille am anderen Ende der Leitung, stumme Bitterkeit dringt durch den Hörer. Adele Jacob scheint nicht zufrieden mit meiner Aussage. Ich bin fast sicher, sie wird demnächst weitere Kolleginnen konsultieren – und dabei wieder neue Wahrheiten vernehmen, die sie im Endeffekt doch nur noch mehr verwirren.

Ob Vanille, Erdbeer oder Schokolade: Welchen Geschmack die von ihr gewählte Zukunft schließlich haben wird – vielleicht wird sie es mir ja berichten.

©carola winter 2017